Angekommen

Ein leises Rauschen dringt in mein Bewusstsein, während ich langsam erwache. Der Wind, denke ich, und sehe vor meinem inneren Auge Bäume hin- und herschwingen, deren Blätter sanft rascheln. Dann wird das Rauschen lauter, und noch bevor ich die Augen öffne, weiß ich, dass das Geräusch einen weit weniger idyllischen Ursprung hat: Die Klimaanlage.

Das Brummen von diesem weißen Kasten ist mir nach über zwei Wochen in Ägypten beinahe vertraut geworden. So vertraut, dass ich es meist gar nicht mehr wahrnehme. Anders als an dem Tag, an dem ich das erste Mal in diesem fremden Land aufgewacht bin. Nachdem ich am Abend zuvor meine Matratze direkt neben die Klimaanlage geschoben habe, um die nächtliche Temperatur aushalten zu können.

 

Ja, natürlich wusste ich, dass Ägypten heiß ist. Besonders im Sommer. Und der geht hier bis in den Oktober hinein. Und ich wusste auch, dass Kairo in der Wüste liegt. Auf die dicke Wand, gegen die ich laufe, als ich aus dem Flugzeug heraustrete, bin ich trotzdem nicht vorbereitet. Zumal es schon seit einigen Stunden dunkel ist und ich irgendwie erwartet habe, dass zumindest die Nächte ein wenig Abkühlung bringen würden. Aber dem ist nicht so. Bei meiner Ankunft am Kairoer Flughafen sind es mind. 30 Grad. Und auch in dem Shuttlebus, der uns vom Flugzeug zum Flughafengebäude fährt, ist es kaum kühler. Eine Klimaanlage gibt es nicht, zudem ist der Bus völlig überfüllt. Eingeengt zwischen Ägyptern, die aus ihrem Urlaub oder von ihrer Geschäftsreise aus Deutschland zurückkehren, denke ich mit einem schiefen Lächeln im Gesicht: "Willkommen in Ägypten."

 

Ein halbes Jahr werde ich hier nun verbringen, um ein Semester an der Ain Shams Universität zu studieren. Als Teil des binationalen DaF-Masters in Leipzig. Die Vorlesungen in Kairo beginnen Mitte September, direkt nach dem Opferfest, der bedeutendsten Feier im Islam. Ich reise bereits eine Woche früher an, um ein wenig Zeit zu haben, in dieser mit über 20 Mio. Einwohnern größten Stadt Afrikas erst einmal die Orientierung zu finden.

 

Es ist Sonntag, als ich ankomme, der Vorabend zum Fest. Bekannte, die mich vom Flughafen abgeholt haben und für zwei Tage meine Gastgeber sein werden, sagen mir, dass viele Ägypter für die Feiertage die Stadt verlassen haben. Deshalb sei auf den Straßen nichts los. Nichts los? Ungläubig sehe ich aus dem Fenster unseres Taxis und frage mich, was dieses Chaos mit den Wörtern "nichts los" zu tun hat. Nach meinem Verständnis ist auf der vierspurigen Straße, auf der wir unterwegs sind, eine ganze Menge los. Sie ist geradezu überfüllt mit allen, was Räder und sogar Hufe hat: teure, dicke Wagen ziehen mal rechts, mal links an alten, verrosteten Karren vorbei. Und auch unser Taxifahrer schlängelt sich hakenschlagend durch das Getümmel. Vor uns ein alter Lastwagen, auf dessen Ladefläche eine Kuh hin und herschwingt. Sie wird das Opferfest wohl nicht überleben, höre ich meine Gastgeberin sagen. Ebenso wenig wie die Ziegen, die am Straßenrand entlang getrieben werden, um noch einen Käufer zu finden. Und dann überholen wir plötzlich einen Eselskarren, der zielstrebig auf der Mittelspur entlang trabt.

 

Gut eine halbe Stunde später kommen wir in Maadi an. In Rekordzeit, wie ich später erfahre. Ich beginne zu verstehen, dass die Bezeichnung "nichts los" weniger mit der Dichte des Verkehrs zu tun hat, als mit der Tatsache, dass es überhaupt rollt. An anderen Tagen hätte die Fahrt vom Flughafen nach Maadi durchaus zwei Stunden dauern können.

 

Der Stadtteil Maadi liegt im Süden von Kairo. Er wird vor allem von der reichen Bevölkerung und von Ausländern bewohnt. So auch von meinen Gastgebern, einer deutschen Familie, die hier bereits seit Jahrzehnten lebt. Und auch ich werde hier eine WG beziehen.

 

Für einen Stadtteil in einem Land, das vor allem aus Wüste besteht, ist Maadi überraschend grün. Überall am Straßenrand wachsen Palmen und andere Pflanzen, oft auf Kosten des Fußweges. Inzwischen haben ich mich daran gewöhnt, wie alle anderen auch, auf der Straße zu laufen. Die Nutzung des Fußwegs ist mit einem zu hohen Energieaufwand verbunden: Er wird alle paar Meter von Beeten, Parklücken, Garageneinfahrten und was weiß ich nicht unterbrochen. Was wiederum für den Fußgänger bedeuten würde, im Sekundentakt zwischen Straße und Fußweg hin und herzuwechseln. Da die Bordsteine jedoch einen gefühlten halben Meter hoch sind, macht sich kaum einer die Mühe, ihn überhaupt zu nutzen. Zur Begeisterung der Autofahrer, die auf engen Fahrstreifen noch einen Grund mehr haben, ununterbrochen die Hupe zu betätigen

Meine Gastgeber wohnen in einem mehrstöckigen Haus in einer Seitenstraße nahe am Nil. Nachdem der Taxifahrer uns unser Gepäck gereicht und den Koffer, den er auf dem Dach festgezurrt hat, losgelöst hat, geht es in den 8. Stock des Hauses. Und ja, es gibt einen Fahrstuhl. Er wirkt auf mich zwar nicht allzu vertrauenswürdig. Die Hitze und meine Erschöpfung lassen mich das jedoch ausblenden.

 

In der Wohnung angekommen, lasse ich mich auf der Matratze, die schon im Wohnzimmer für mich bereit liegt, fallen. Müde schaue ich mich um und stelle fest, dass die Wohnung nicht nur sehr groß ist, sondern auch hell und sauber wirkt. Auffallend ist nur die große Klimaanlage und der weiße Kachelboden in allen Räumen.

 

Ich bleibe am ersten Tag bei der Familie, um einer ehemaligen Kommilitonin beim Einzug in ihre neue Wohnung zu helfen, die sich im selben Gebäude befindet. Wie ich hat sie ein Semester hier studiert und sich schließlich entschlossen, mit ihrem Mann hier zu bleiben. Der Einzug bedeutet für uns zunächst einmal Putzen bis zum Umfallen. Wie in Ägypten üblich, haben die Vormieter nicht nur die Möbel zurückgelassen, sondern auch eine Menge Dreck. Eine Wohnungsübergabe hat es wahrscheinlich nicht gegeben. Mit Reinigungsmittel und Wischlappen bewaffnet nehme ich das Bad in Angriff. Als ein schwarzes Lebewesen mit mehr als vier Beinen unter der kaputten Waschmaschine hervorkriecht, schwindet meine anfängliche Motivation. Aber ich bleibe dabei. Und als wir am Abend verschwitzt und mit Staub bedeckt unsere Arbeit beenden, wirken die Zimmer schon deutlich wohnlicher.

 

Am nächsten Tag ziehe ich dann in meine WG. Meine Gastgeberin möchte mich am Vormittag mit dem Taxi hinbringen. Schließlich wird daraus jedoch Nachmittag. Ihr Hausbesitzer hat uns eingeladen, bei einem wichtigen Teil des Opferfestes dabei zu sein: Sie haben sich eine junge Kuh geleistet, die am Vormittag im Hof geschlachtet werden soll.

Das islamische Opferfest erinnert an eine Geschichte, die sowohl im Koran als auch in der Bibel steht: Gott stellt Abraham vor eine Prüfung, in dem er ihm aufträgt, seinen eigenen Sohn zu opfern. Als er Abrahams Bereitschaft erkennt, seinem Willen zu folgen, hält er ihn im letzten Moment davon ab und lässt ihn stattdessen einen Widder opfern.

 

Das Fest dauert insgesamt vier Tage, von Montag bis Donnerstag. Man verbringt diese Zeit in der Familie, die Straßen sind "leer" und die meisten Geschäfte geschlossen. Gläubige Muslime opfern während der Feier ein Tier und verteilen einen Teil des Fleischs an die Armen. Meine Gastgeberin meint, es sei ein Zeichen von Prestige, könne man sich eine Kuh leisten. Der Taxifahrer, der uns am Flughafen abgeholt hat, sagte, er hätte zusammen mit einem Nachbar eine Kuh für 15000 ägyptische Pfund gekauft, das sind ungerechnet 1500€. Wer sich das nicht leisten kann, bei dem wird es nur eine Ziege geben.

 

Mit geteilten Gefühlen entscheide ich mich, die Einladung anzunehmen. Ich habe noch nie ein Tier sterben sehen. Abgesehen von einigen Insekten, an deren Tod ich nicht ganz unschuldig war. Und dann war da noch mein Meerschweinchen, das an einer Krankheit gestorben ist. Das ist eine Sache. Eine gesunde, junge Kuh zu töten, eine andere. Einerseits bin ich neugierig, andererseits schreckt mich der Gedanke ab. Anders als die Kinder, die neben ihrem Vater unmittelbar vor der Kuh stehen. Die Frauen schauen vom Balkon aus zu. Keiner von ihnen scheint während der ganzen Zeremonie angewidert oder erschrocken. Im Gegensatz zu mir. Das erste Mal in meinem Leben denke ich ernsthaft darüber nach, Vegetarier zu werden. Nicht, weil ich es nicht mit ansehen könnte, wie das tote Tier schließlich auseinander genommen wird. Das Fleisch sieht man schließlich auch täglich im Supermarkt liegen. Geschockt hat mich allerdings, wie man der Kuh die Kehle aufgeschnitten hat. Es sei ein leichter Weg für das Tier, so zu sterben, sagte man mir. Es würde langsam einschlafen, während man es ausbluten ließ. Während man das Blut in dem Graben auffing, den man um das Tier herum ausgehoben hatte, um später Erde darüber zu schütten. Tatsächlich wirkte das Ganze auf mich nicht so, als ob es für die Kuh leicht gewesen wäre. Als ob sie nicht gelitten habe.

 

Mit einem merkwürdigen Gefühl im Magen verlasse ich den Schauplatz.

Wenig später fahren wir zu meiner WG. Sie befindet sich am südlichen Rande Maadis in der vierten Etage eines insgesamt zwölfstöckigen Gebäudes. Wir werden von Lulu empfangen, einer meiner beiden zukünftigen Mitbewohnerinnen. Die zweite, Maruh, ist über die Feiertage weggefahren. Nachdem meine Bekannte sich verabschiedet hat, führt mich Lulu durch die Wohnung. Ich bin positiv überrascht, um nicht zu sagen, begeistert. Die Wohnung ist groß und hell und vor allem sauber und aufgeräumt, was laut meiner Bekannten hier nicht selbstverständlich ist. Die Küche und das Wohnzimmer sind durch eine Bar voneinander getrennt. Die bequemen Sofas in der Fernsehecke, direkt neben der Klimaanlage, habe ich inzwischen lieben gelernt.

Und schließlich sollte auch der Balkon erwähnt werden, der vom Wohnzimmer aus zur Straße rausgeht und von dem aus man eine gute Sicht auf den Süden der Stadt hat. Zugeben, weder der Dreck noch die Hitze laden dazu ein, viel Zeit auf dem Balkon zu verbringen. Es sei denn, man steht kurz vor Sonnenaufgang auf und setzt sich mit einem Kaffee nach draußen. Das habe ich bisher allerdings nur einmal geschafft.

Mein Zimmer ist überraschend groß und ausreichend möbliert. Die Klimaanlage ist leider kaputt, dafür steht ein Ventilator im Zimmer. Einige Tage später, als die Temperaturen selbst nachts über 30 Grad liegen, stelle ich fest, dass das Wörtchen "dafür" nicht wirklich angebracht ist. Es macht kaum einen Unterschied, ob der Ventilator läuft oder nicht. Die Fenster in meinem Zimmer sind zudem nicht dicht, bringen durch die farbigen Scheiben jedoch eine angenehme Atmosphäre ins Zimmer. Die Aussicht ist weniger prickelnd: Ich schaue in eine Art Hinterhof, der jedoch kein begehbarer Hof ist, wenige Meter gegenüber die Rückseite des nächsten Hauses.

Trotz einiger Defizite habe ich mich von Beginn an in meinem neuen Zuhause wohlgefühlt und mich sehr schnell eingelebt. Ich habe den Rest der Woche damit verbracht, die Umgebung zu erkunden und den Weg zur Uni auszutesten. Er führt mich einmal durch die halbe Stadt und kostet mich fast eineinhalb Stunden. Allein 40min fahre ich mit der Metro. Da ich nur zwei, maximal dreimal die Woche zur Uni muss, finde ich das ok. Immerhin wohne ich dafür im sichersten Stadtteil Kairos und habe zwei nette Mitbewohnerinnen, die mir gerade in der ersten Woche viel gezeigt und erklärt haben.

 

Wenn ich Glück habe, erwische ich eine der neuen Bahnen, die mit Klimaanlage ausgestattet sind und in denen die Haltestellen auf Englisch durchgesagt bzw. angezeigt werden. Im schlechteren Fall suche ich mir einen Platz möglichst nahe am Fenster, um ein wenig Fahrtwind abzubekommen. In jeder Bahn gibt es Wagen, die ausschließlich den Frauen vorbehalten sind. Meist sind diese nicht bis zum Rand vollgestopft. Sollte sich einmal ein Mann in einen solchen Wagen verlaufen, kann es für den sehr unangenehm werden: Plötzlich fangen die Frauen an zu kreischen. Im Gedränge an der Tür erkenne ich eine Gruppe von Männern, die versucht, sich in den Wagen zu drängen. Die älteren Frauen wehren sie mit Händen und Füßen ab. Als einer von ihnen plötzlich in der Bahn steht, muss er einige Schläge einkassieren. Die Sicherheitskräfte, die an den Bahnsteigen hin und herflanieren, wollen eingreifen, können jedoch nicht verhindern, dass die Frauen den Mann bis zur nächsten Station in Gewahrsam behalten.

 

Während meiner ersten Testfahrt mit der Metro mache ich einen Zwischenstopp am Tahrirplatz und laufe von dort zum Nilufer. Ehe ich mich versehe, werde ich von einer Horde Teenager umzingelt, die mich darum bittet, ein Selfie mit mir machen zu dürfen. Die Deutschen sind in Ägypten sehr beliebt, wie ich mittlerweile erfahren habe. Im Gegensatz zu den Briten und den Franzosen verbinde man mit ihnen keine negativen Geschichten aus der Kolonialzeit. Hinzu kommt, dass Deutschland im zweiten Weltkrieg den Briten gegenüber steht, die zu dieser Zeit Ägypten besetzt halten. Man hofft auf die Befreiung durch die Deutschen. Und schließlich hat Hitler zahlreiche Juden umgebracht - das scheint in einem Land, das mehrfach gegen Israel Krieg geführt hat, ausreichend zu sein, um seinen Namen zu äußern und dabei den Daumen zu heben. Leider ist das Bildungssystem in Ägypten sehr schlecht und nicht allen scheint klar zu sein, dass sie die nächsten hätten sein können.

Am Tahrirplatz
Am Tahrirplatz
Das Ägyptische Museum am Tahrir Platz
Das Ägyptische Museum am Tahrir Platz
Nilbrücke zwischen Tahrir-Platz und der Nilinsel Zamalek
Nilbrücke zwischen Tahrir-Platz und der Nilinsel Zamalek
Am Nilufer
Am Nilufer

Die Veranstaltungen an der Uni haben am Samstag nach meiner Ankunft begonnen, hier der Beginn der Woche. Freitag ist eine Art Feiertag, an dem am Vormittag in den Moscheen das Freitagsgebet verbunden mit einer Predigt stattfindet. So auch die meisten christlichen Gottesdienste. Immerhin 10% der Bevölkerung seien Christen. Ich habe die letzten beiden Wochen eine internationale Gemeinde besucht, die sich abends unter einem großen Pavillon im Garten einer anderen Kirche trifft. Und auch eine winzige jüdische Gemeinde existiert in Kairo, mit zuletzt 10 Mitgliedern, die alle über 60 Jahre alt sind.

 

Die meisten Läden öffnen bereits im Laufe des Nachmittags wieder. Einen wöchentlichen Feiertag, wie es bei uns der Sonntag ist, gibt es hier nicht. Darum habe ich auch sonntags Uni. Sowie wahrscheinlich jeden zweiten Mittwoch. Der Stundenplan steht noch nicht fest. Ich hoffe, noch ein Didaktik-Modul tauschen zu können. Weder die Inhalte noch die Lehrkräfte haben mich bisher sehr zum zuhören animieren können, da mir vieles bereits aus meinem Bachelorstudium bekannt ist.

 

Anders unser Modul zur Arabischen Sprache und Kultur. Der Kulturprofessor hat es tatsächlich geschafft, uns drei Stunden mit seiner Erzählung über die Revolution in Ägypten und ihrer Hintergründe zu fesseln - drei Stunden ohne Unterbrechung! Er hat zu uns als Mensch gesprochen, der all diese Dinge selbst miterlebt hat, nicht als Lehrer - ich glaube, das hat uns alle in Atem gehalten.

 

Unser Sprachlehrer hat uns auf andere Weise sehr beeindruckt. Ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der es schafft, ununterbrochen ein so breites Grinsen auf den Lippen zu tragen, wie er es tut. Mir ist noch nicht ganz klar geworden, ob er so begeistert von seinem Fach ist, oder von uns. Oder vielleicht auch von beiden. Er fordert uns und hält uns ziemlich - im positiven Sinne - auf Trab. Ich freue mich auf die nächsten Veranstaltungen bei beiden Dozenten.

Erziehungswissenschaftliche Fakultät der Ain-Shams Universität
Erziehungswissenschaftliche Fakultät der Ain-Shams Universität

Vom Sonntag bis Mittwoch besuche ich eine Sprachschule gleich bei mir um die Ecke, in der auch Lulu arbeitet. Ich habe hier einen Kurs zum ägyptischen Dialekt begonnen, zusammen mit zwei anderen deutschen Mädels, einer Französin, einem Engländer und einem Amerikaner. Jeweils drei Stunden pro Tag. Die Leiterin der Schule, eine Freundin meiner Mitbewohnerinnen, hat mir angeboten, dass ich den Kurs dann bezahlen kann, wenn ich mein Geld vom BAföG-Amt erhalte - das lässt leider immer noch auf sich warten.

 

Von der Stadt selbst habe ich bisher nicht viel gesehen. Zumindest von den touristischen Attraktionen der Stadt. Von den Dingen, die ich bisher mit diesem Land in Verbindung gebracht habe. Bevor ich überhaupt daran dachte, tatsächlich für einige Zeit hier zu leben, waren das in erster Linie die Pyramiden. Meine WG-Mitbewohnerin meinte, man könne sie vom Balkon aus sehen. An guten Tagen. Das heißt, wenn der Smog nicht die Sicht über die Stadt vernebelt. Einen solchen Tag habe ich noch nicht erlebt.

 

Stattdessen blicke ich direkt auf einen Friedhof, wenn ich vom Balkon schaue. Er liegt auf dem Gelände eines Gefängnisses. Es ist in einiger Ferne hinter den kleinen Lehmhütten des Friedhof zu sehen. Hier sollen viele politische Gefangene untergebracht sein, darunter Anhänger der Muslimbrüder und Abgeordnete des alten Regimes. Aber auch junge Leue, die sich gegen die gegenwärtige Politik gewandt haben.

 

Vor den Mauern des Gefängnisses sehe ich eine der vielen mehrspurigen Straßen, die durch die Stadt führen. Und ich sehe das, was Kairo für mich nach drei Wochen in diesem Land am meisten ausmacht: Scheinbares Chaos.

 

Merkwürdigerweise fühle ich mich wohl in diesem Chaos. Ich genieße es, durch die Straßen zu laufen und dieses bunte Durcheinander vor Augen zu haben. Ich habe schnell gelernt, mich zurecht zu finden, mich selbstbewusst zwischen den Autos durchzuschlängeln, ohne überfahren zu werden. Ich weiß, wo der günstigste Supermarkt ist, welche Händler nicht das Doppelte oder gar Zehnfache von mir verlangen, weil ich offensichtlich Ausländerin bin. Vor allem dank Lulu, die sich unglaublich viel Zeit genommen hat, mir alles zu zeigen.

 

Während ich diese Zeilen schreibe, dringt eine vertraute Musik an mein Ohr: der Ruf zum Gebet, der aus Lautsprechern an allen Ecken der Straße schallt, gemischt mit dem fast ununterbrochenen Hupen der Autos in einer Stadt, in der das Hupen theoretisch verboten ist. Und daneben die brummende Klimaanlage.

 

Die Klimaanlage höre ich meist gar nicht mehr. Den Gesang, der die Muslime fünfmal am Tag - zum Sonnenaufgang, mittags, nachmittags, zum Sonnenuntergang und noch einmal nachts - zum Gebet ruft, lässt mich immer wieder freudig aufhorchen. Weil er mich für einen Moment aus den Alltag reißt, der sich so schnell eingeschlichen hat. Und mich daran erinnert, wo ich bin und dass ich die Chance habe, für ein halbes Jahr in dieses fremde Land einzutauchen, die Menschen, die hier leben, kennenzulernen, die Sprache zu lernen.

 

Und dann ist da noch das ständige Hupen. Ich habe noch nicht so recht durchschaut, was es bezwecken soll. Man hupt hier, wenn weit und breit nichts und niemand im Wege steht. Und dann, wenn die Straßen verstopft sind und offensichtlich ist, dass die Betätigung der Hupe nichts daran ändern wird. Und man hupt, bevor man jemanden überholt oder einen Fußgänger beinahe umfährt. Obwohl es sehr zweifelhaft erscheint, dass noch irgendwer ein Warnsignal als eben das erkennt, wenn es doch im Sekundentakt über die Straßen schallt.

 

Die Menschen, die ich hier kennenlerne, fragen mich meist zuerst, ob es mir denn in Ägypten gefallen würde. Über meine Antwort schütteln sie dann den Kopf. In ihren Augen scheint es kaum nachvollziehbar, dass ich mich als Deutsche hier wohl fühle. Ja, es mag sein, dass es für mich leicht ist, diese Frage zu bejahen. Denn ganz gleich, ob ich nur als Tourist hier bin oder ein halbes Jahr hier studiere, so bin und bleibe ich doch Deutsche. Ich bin nur auf begrenzte Zeit hier und werde wieder nach Deutschland zurückkehren, wo der gewohnte Wohlstand auf mich wartet. Wo ich mit meinen Rechten und Freiheiten definitiv ein sehr angenehmes Leben führe. Das heißt jedoch nicht, dass ich mit einer rosaroten Brille durch die Straßen laufe. Ich sehe durchaus den Dreck und den Müll auf den Straßen. Die alten, kaputten Autos, die Armut der Menschen, die auf den Mülldeponien und auf den Friedhöfen wohnen. Und es ist absolut nicht so, dass ich nur gute Erfahrungen sammeln würde. Wie überall auf der Welt meinen es auch hier nicht alle gut miteinander. Und wie überall auf der Welt, hat das Leben nicht nur gute, sondern auch schlechte Seiten. Und so kann ich es durchaus verstehen, dass die Menschen, für die die negativen Seiten überwiegen, mit dem Kopf schütteln, wenn ich sage, dass ich mich wohl fühle. Das heißt dennoch nicht, dass ich für das Negative blind wäre. Nur sehe ich eben nicht nur den Dreck und die zerfallenen Häuser. Sondern auch die Menschen, die mich hier vom ersten Tag an so herzlich willkommen geheißen haben. Die Bekannten, die mich am Flughafen abgeholt haben und mir diesen wunderbaren WG-Platz organisiert haben. Meine Mitbewohnerinnen. Das junge Paar, die ich im Flugzeug kennengelernt habe und die mich einige Tage später abgeholt haben, um mir ein wenig von der Stadt zu zeigen und mich auf einen Kaffee einzuladen. Die netten Studenten, die sich zu mir gesetzt haben, als ich wegen einer Stundenplanveränderung mal wieder eine Stunde zu früh an der Uni war. Die so wunderbar gesungen und musiziert haben und mit denen ich so viel gelacht habe. Und die Menschen, die mir durch ihre Erzählungen bereits so einprägsame Einblicke in dieses Land verschafft haben und mir geholfen haben, manches besser zu verstehen. Und die dabei nicht versucht haben, mir ihre persönliche Sicht der Dinge als allgemein gültige Wahrheit zu verkaufen, wie es die Presse täglich tut. Und schließlich auch das Chaos auf den Straßen, dass zunächst so undurchschaubar wirkte, letztlich aber irgendwie funktioniert.

 

"Wer Kairo nicht gesehen hat, der hat die Welt nicht gesehen. ...", heißt es bei "Tausendundeiner Nacht". Das mag womöglich etwas überzogen klingen, da die Welt doch so unglaublich groß ist und so vieles zu bieten hat. Warum also gerade diese eine Stadt? Man muss wohl tatsächlich hier gewesen sein, um diese Aussage zu verstehen. Man muss den so ganz eigenen Charakter Kairos kennengelernt haben, den Trubel auf den Straßen und den Gassen weg von den touristischen Orten erlebt haben. Dann kommt man schließlich nicht umhin zu glauben, dass man definitiv etwas verpasst hätte, wenn man diesen Teil der Welt nicht gesehen hätte.

Keine Seltenheit in Kairo :)
Keine Seltenheit in Kairo :)

Kommentar schreiben

Kommentare: 0