Von Grautönen und Farbtupfen (Teil IV: El-Santa)

Neben den vielen kleinen Ausflügen in und um Kairo bin ich während der letzten beiden Monate zweimal über das ganze "Wochenende" aus dem Chaos von Kairo geflohen. Beide Male führt mich meine Reise ins Nildelta, in ein kleines Dorf nahe Elsanta.

Hier geht's zu Teil III: Wadi Degla.

 

Hier wohnt ein Studienkollege von mir zusammen mit seiner Familie. Ich bin zu seiner Hochzeit Ende Oktober eingeladen. Die Feier ist am Freitag Abend geplant. Offiziell wurde die Hochzeit bereits eine Woche zuvor mit einer Unterschrift besiegelt, ein Akt, bei dem nur die Eltern dabei sind. Die Frau hingegen ist nicht verpflichtet, anwesend zu sein.

 

Ich mache mich bereits einen Tag zuvor auf den Weg zu der Familie. Der einfachste Weg ist es, einen Kleinbus von der Busstation in Aboud zu nehmen, der direkt nach Elsanta fährt. Dort will mich Aimed* abholen.

 

Die Anreise erscheint für mich wieder wie eines der kleinen Abenteuer, die das Leben hier so aufregend machen: Ich fahre mit der Metro bis ganz in den Norden von Kairo und steige dort kurz vor der Entstation aus. Soweit, so gut. Ab hier wird es knifflig. Glaube ich zumindest, als ich mir bei GoogleMaps anschaue, wie weit die Busstation von der Metrohaltestelle entfernt liegt. Ich will mir ein Taxi nehmen und hoffe, dass der Fahrer versteht, wo ich hin möchte. Letztendlich kommt es gar nicht dazu. Während ich in der Metrostation noch überlege, welchen Ausgang ich nehme, wirke ich wahrscheinlich so verloren, dass ich von einen der umstehenden Menschen sofort angesprochen werde. Er fragt mich, wo ich hin muss und fordert mich dann auf, ihm zu folgen. Wir laufen zu einem der Mikrobusse. Er hilft mir noch, meine Tasche in den Bus zu hieven, ruft dem Fahrer zu, wo er mich rauslassen soll, dann ist er auch schon wieder verschwunden. Ich drehe mich zu den anderen im Bus um, die mich alle neugierig anschauen. Ein junger Student direkt neben mir fragt mich prompt: "Deutschland, oder?" Während ich ihn verwundert ansehe, erzählt er, dass er am Goethe-Institut Deutsch lernt. Er hätte schon häufiger mit Deutschen zu tun gehabt, er würde Deutsche daher sofort erkennen. Woran, das bleibt offen. Auf jeden Fall hat sich damit jede Herausforderung in Luft aufgelöst. Er steigt mit mir an der Busstation in Aboud aus, bringt mich zu dem Bus nach Elsanta und sagt mir, wie viel Geld ich dem Busfahrer am Ende geben soll. 10 Pfund, für eine anderthalbe Stunde Fahrt. Mit einem kurzen Winken ist auch er wieder verschwunden.

 

Die Fahrt nach Elsanta verläuft zunächst über die Route Agricole, eine Landstraße, die durch das Nildelta nach Alexandria führt und alternativ zu der mautpflichtigen Wüstenautobahn vornehmlich vom LKW-Verkehr genutzt wird. Meine Abenteuerlust verfliegt sehr schnell, während ich die schwarzen Wölkchen beobachte, die die LKWs vor uns, hinter uns, neben uns ausstoßen. Es ist noch immer sehr warm draußen, die Fenster sind alle offen. Die Luft ist so schlecht, dass mir innerhalb kurzer Zeit übel wird. Vielleicht auch in Kombination mit den Fahrtkünsten unseres Busfahrers, der bis wenige Meter an den nächsten LKW heranfährt und dann plötzlich nach links oder rechts zieht, je nachdem wo gerade Platz ist, um an dem LKW vorbeizuziehen. Ich versuche mich abzulenken und beobachte das ganze Dutzend Kühe, das auf der offenen Ladefläche eines kleines LKWs zusammengepfercht steht. Keine gute Idee, die Tiere tun mir Leid. Also drehe ich meinen Kopf zur anderen Seite, auf der uns gerade ein Zug überholt. Die Eisenbahn nach Alex verläuft meist parallel zur Straße. Der Zug scheint bis auf den letzten Platz vollgequetscht: Die Menschen hängen aus den offenen Türen heraus, während sich hinter ihnen noch mehr Menschen drängen. Einige hängen sogar außen am Zug oder auf dem Gestänge zwischen den einzelnen Waggons. Dann vielleicht doch lieber die Kühe.

 

Nach einer guten Stunde fahren wir durch eine etwas größere Stadt. Wir biegen überraschend in eine schmale Gasse ab. Kurze Zeit später befinden wir uns auf einer schmalen Landstraße, die zwischen den Schlaglöchern mit etwas Teer verziert wurde. Dafür gehört die Straße nun fast uns alleine. Ausgenommen der Eselskarren und der Pferdekutschen, die dem hupenden Bus immer wieder erschrocken zur Seite springen. Die Straße führt uns durch einige kleine Siedlungen, die meiste Zeit sieht man allerdings weit und breit nur grüne Wiesen und Ackerfelder.

Schließlich erreichen wir den Busbahnhof von Elsanta. Hier holt mich Aimed* ab. Er entreißt mir meinen Rucksack, wir laufen zu einem der TukTuks. Die motorisierten Dreiräder gibt es auch in Kairo, vermehrt in den ärmeren Stadtvierteln. In Maadi hingegen sind sie fast überall verboten, da die oft noch minderjährigen Fahrer zu viel Chaos auf den Straßen anrichten würden. Zudem können sich die reichen Bewohner Maadis sicherlich nur wenig für den Techno Hop begeistern, der aus den TukTuks auf die Straßen brüllt. In einer definitiv ungesunden Dezibelzahl.

 

Noch einmal fahren wir vorbei an grünen Wiesen, dann überqueren wir einen Bahnübergang. Direkt daneben befindet sich eine Bahnhaltestelle. Es sei jedoch nicht zu empfehlen, von Kairo mit dem Zug zu kommen. Man müsse zweimal umsteigen und aufgrund der Anschlusszeiten könne man gut einen Tag für den Trip einplanen. Dann doch lieber Abgase inhalieren und Kühe bedauern.

 

Wir biegen in eine schmale Gasse ab, am Ende der Gasse halten wir vor einem mehrstöckigen Haus. Das Haus von Aimeds* Eltern. Wir steigen die Treppen hinauf in das erste Stockwerk, dort steht die Tür bereits offen. Eine ältere, kräftige Frau umarmt mich und drückt mir links und rechts einen Schmatzer auf die Wange. Aimeds* Mama. Ich sage ihr, dass ich mich freue, sie kennenzulernen. Dann höre ich zwei Wörter, die sich nach zwei Tagen mit der Familie definitiv fest in mein Gedächnis eingegraben haben werden: "Inti 'Asl!" (Du bist Honig!) Als nächstes begrüßt mich der Vater, zurückhaltender, jedoch nicht weniger warmherzig. Und schließlich tauchen auch die beiden Brüder von Aimed* auf und die Schwester, die zusammen mit ihrem kleinen Sohn während der "Feiertage" zu Besuch ist, um der Mutter im Haus zu helfen.

 

Aimed* zeigt mir mein Zimmer, dann setzen wir uns ins Wohnzimmer. Während wir uns unterhalten, trägt seine Schwester das Abendessen auf. Was in meinen Augen wie ein Festmahl wirkt: Gefüllte Täubchen und Mashi, ein typisch ägyptisches Gericht aus gefüllten Wein- oder Kohlblätter, manchmal aber auch aus gefüllten Paprika oder Aubergine.

 

Nach dem Essen zeigt mir Aimed* dann seine zukünftige Wohnung. Sie befindet sich eine Etage weiter oben. Es ist üblich, dass die Braut zur Familie des Bräutigams zieht. Die Einrichtung der Wohnung wiederum wird von den Eltern der Braut organisiert als auch finanziert. Die Mutter kümmert sich in erster Linie darum, zusammen mit der Tochter, die auswählt, was in die Wohnung rein soll. Wie groß die Wohnung ist und wie reich sie möbliert wird, hängt natürlich vom Einkommen der Familie ab. Im Fall von Aimeds* Wohnung fühle ich mich ein wenig wie in Alice Wunderland versetzt: Dunkle Satinvorhänge, die jeden Sonnenstrahl ersticken, edle Polstermöbel und dunkle Schränke in künstliches Licht getaucht, die Wände und der Boden in blasen Farben, schicke Glastische und ein großer LED-Fernseher - das ganze wirkt auf mich so unglaublich surreal. Könnte ich jetzt aus dem Fenster schauen, würde ich eine ungeteerte, erdige Straße sehen, Menschen mit einem Turban auf dem Kopf, Esel reitend. Es fällt mir schwer zu begreifen, dass diese beiden Welten so unmittelbar nebeneinander existieren können.

Als wir die Wohnung wieder verlassen, zeigt Aimed* auf die gegenüberliegende Wohungstür. Dort wird bald sein Bruder mit seiner zukünftigen Braut wohnen. Einen Monat später werden auch sie heiraten, die zweite Hochzeit, zu der ich eingeladen bin. Die beiden kennen sich schon sehr viel länger als Aimed* und seine Zukünftige. Sie haben sich an der Uni kennengelernt. Allerdings sollte zuerst Aimed* als älterer Bruder heiraten. Üblicherweise schlagen die Eltern einen Partner für ihre Kinder vor. Man trifft sich dann einige Male. Wenn man sich gut versteht und beide einverstanden sind, gibt es eine Hochzeit. Gut verstehen hat Aimed* allerdings nicht gereicht. Da sollten schon auch Gefühle sein. Und die gab es. Als er im Frühjahr Raija* kennenlernte.

 

Ich treffe Raija* das erste Mal, als wir am Abend noch einmal in die Stadt fahren. Und neben ihr auch ihre 6 Schwestern und noch ein paar Cousinen. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg, um noch einige Kleidungsutensillien für die Hochzeit zu besorgen. Als wir schließlich nachhause zurückkehren, ist es kurz vor Mitternacht. Ich sitze noch eine Weile mit der Familie im Wohnzimmer, versuche mit meinen wenigen Brocken Arabisch ein Gespräch anzufangen. Mit wenig Erfolg. Dann werde ich abgelenkt von dem goldigen Sohn von Aimeds* Schwester, der die Familie auch um diese Uhrzeit noch auf Trab hält. Ihm scheint immer wieder irgendwelcher Unsinn in den Kopf zu kommen. Und scheinbar, so wie ich es verstehe, ist er es auch, der bestimmt, wann es schlafen geht. Dann, wenn er müde ist. Zum Glück nicht für mich. Ich verpasse dem kleinen Mann noch eine sanfte Kopfnuss, dann verschwinde ich in meinem Zimmer und gehe schlafen.

 

Der nächste Tag beginnt mit einem unheimlich leckeren Frühstück ganz im ägyptischen Stil. Brot, Falaffel, Käse, Marmelade, gekochte Eier und eine Schüssel mit geschnittenen Gemüse und Oliven. Besteck gibt es nicht. Stattdessen nimmt man sich ein Stück Brot und nimmt damit etwas vom Käse oder der Marmelade auf. Auf Arabisch nennt man dieses Brot Aish. Aish wiederum bedeutet Leben.

Der weitere Tag verläuft relativ unspektakulär. Aimed* ist mit den Vorbereitungen für seine Hochzeit am Abend beschäftigt, ich sitze die meiste Zeit mit seiner Mutter und seiner Schwester im Wohnzimmer und drehe Däumchen. Ich versuche wieder, meine Arabischbrocken in der Praxis einzusetzen. Die beiden Frauen nicken und lächeln und werfen immer wieder dieses eine Wort, 'Asl, dazwischen. Ehrlich gesagt glaube ich aber, dass sie die meiste Zeit keine Ahnung haben, wovon ich rede.

 

Mein Monolog wird hin und wieder von Leuten aus der Verwandtschaft unterbrochen, die vorbei kommen, um der Familie zu gratulieren und meist etwas zu essen für das Brautpaar mitbringen. Ich werde jedem vorgestellt, es folgt ein Küsschen hier, ein Küsschen da und zum wiederholten Male: "Inti 'Asl". Dann sitzen wir wieder in der Stille und schweigen vor uns hin. Normalerweise würde nun wahrscheinlich der Fernseher laufen. Allerdings ist am Tag zuvor überraschend eine Tante gestorben. Deshalb darf im Haus weder der Fernsehen laufen, noch Musik gespielt werden.

 

Ich frage mich, ob der Alltag dieser Frauen immer so aussieht. Dann wenn nicht gerade etwas zu kochen oder sauber zu machen ist. Vielleicht sitzt man ja auch einfach nur aus Höflichkeit mit mir gemeinsam rum, weil man nicht so richtig weiß, was man mit mir anfangen soll. Aber ehrlich gesagt glaube ich das nicht. Vielmehr denke ich, dass man eine Freizeitgestaltung nach meinem Verständnis hier einfach nicht kennt. Also sitzt man eben auf dem Sofa, trinkt Tee mit Verwandten oder schaut Fernsehen. Und naja, es ist ja auch nicht gerade so, dass es das nicht in Deutschland gebe. Nur wirkt es auf mich eben so befremdlich, wenn ich an meinen eigenen Kalender denke, in dem jede Lücke mit Arbeit, Terminen, Freunden oder Sport vollgestopft sein muss. Ob das unbedingt gesünder oder gar erfüllender ist, ist eine andere Frage.

 

Irgendwann am Nachmittag kommt dann die Erlösung. Eine der Cousinen will mit mir auf die Felder raus. Schnell schnappe ich mir meinen Schuhe und folge der jungen Frau nach draußen. Wir machen zuerst bei ihr zuhause Halt, sie will noch schnell etwas anderes anziehen. Sie wohnt direkt um die Ecke. Während ich mal wieder auf dem Sofa sitze und auf sie warte, höre ich die Mutter im Nebenzimmer: "Hiya min Almanija! Hiya min Almaniya!" (Sie ist aus Deutschland.) Wenige Sekunden später führt sie einen kleinen Jungen an der Hand ins Wohnzimmer, die größeren Kinder folgen ihr und setzen sich um das Sofa herum auf dem Teppisch. Nicht das erste und nicht das letzte Mal fühle ich mich ein wenig wie ein Zootier, als mich alle mit großen Augen anstarren. Ich frage die Kids nach ihren Namen und nach ihrem Alter, dann geht es glücklicherweise los.

Zusammen mit dem kleinem Bruder und einer weiteren Cousine laufen wir durch das Dorf, vorbei an einem kleinen Friedhof am Rande des Dorfes. Normalerweise beerdigt man Tote auch im Islam unter der Erde. In und um Kairo hat es sich allerdings gehalten, dass man den Toten Häuser baut, wahrscheinlich ein Überbleibsel des pharaonischen Totenkults. Wir laufen an den kleinen, steinernen Hüten vorbei, die nebeneinander aufgereiht stehen, dann geht es auf einem Feldweg weiter. Ich atme tief durch. So viel grün habe ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Am Rand des Weges stehen hin und wieder abbruchreife Unterstände für ein paar magere Kühe, hier und da ein schiefer Brunnen, aus dem man das Wasser schöpft, um die Felder zu bewässern. Ein Mann auf einem Esel reitet an uns vorbei, dann treffen wir einen Onkel von Aimed*. Er führt uns entlang der Felder, zeigt uns einen unbearbeiteten Acker, der wohl Aimed* gehören würde. Aimed wird bald wieder nach Deutschland zurückkehren, um dort seine Doktorarbeit zu beenden. Ich bezweifle irgendwie, dass er auf diesem Feld jemals etwas selber anbauen wird.

Wir kommen an einen anderen Acker vorbei, auf dem einige junge Männer arbeiten. Vermutlich Aimeds* Cousins. Sein Onkel bleibt bei einem der Esel stehen und bietet mir an, einmal auf dem Vierbeiner zu reiten. Wozu ich natürlich nicht nein sage. Die jungen Männer kommen dazu, halten das Tier während ich aufsteige und führen mich dann eine Runde über das Feld. Irgendwie habe ich mir das aufregender vorgestellt. Man scheint wohl die Befürchtung zu haben, dass mich das Tier sofort abwerfen würde, wenn nicht gleich drei Leute gleichzeitig um mich herum stehen und die Zügel festhalten. Am Ende des Feldes halten wir an, wir laufen zu einigen Frauen, die mit einem japanischen Kampfmesser bewaffnet - so sieht es zumindest aus - in einem Feld von Rohrkolben stehen. Mit den Messern lösen sie die Kolben von der Pflanze und sammeln sie in einem Korb. Die Cousine von Aimed* übersetzt mir die Bezeichnung der Pflanze als "tale of a cat".

 

Während uns der Onkel von Aimed* über seine Gemüsefelder führt und mir Möhren, Gurken, Paprika und allerlei anderes Grünzeug abpflückt, fragt er mich, was die Deutschen über die Araber denken würden. Als ich ihm keine so wirklich klare Antwort gebe, fragt er direkt: "Die Deutschen denken, wir sind alle Terroristen, ja?" Ich schweige für einen Moment, dann meine ich, dass man die Meinung einiger Deutscher genauso wenig auf alle Deutschen verallgemeinern könne, wie man alle Muslime für die Taten einiger Extremisten verantwortlich machen könne. Er nickt, dann wechselt er das Thema. Wir laufen noch ein Stück weiter zu seinen drei Kühen, die auf einer Wiese angebunden stehen. Er fordert mich auf, einmal am Euter der Kuh zu ziehen. Dummerweise stelle ich mich so ungeschickt dabei an, dass der warme Milchstrahl den kleinen Jungen trifft, der direkt neben mir steht und mich neugierig beobachtet.

 

Schließlich machen wir uns auf dem Heimweg. Ein Eselkarren mit Grünzeug beladen kreuzt unseren Weg. Wir springen auf und lassen uns ins Dorf mitnehmen. Ich schwelge in Gedanken und frage mich, wer sich eigentlich in Deutschland die Zeit dafür nimmt, Fremde über seine Felder, geschweige den durch seinen Garten zu führen. Nein, Zeit ist doch Geld. Nur habe ich den Eindruck, dass für viele Menschen hier Beziehung wichtiger ist als Geld. Denn was macht die Qualität meines Lebens aus? Mein Vermögen? Oder meine Freunde, meine Beziehungen zu anderen Menschen?

Am Abend dann begleite ich Aimeds* Schwester ins Kosmetikstudio. Eine kleine Stube in einer dunklen Gasse, wo eine Frau zusammen mit ihrer Tochter die Mädels professionell schminkt, Augenbrauen zupft und Kopftücher richtet. Während sich Aimeds* Schwester für den Abend schick machen lässt, werde ich von den anderen Mädels zuerst mit Blicken, dann mit Fragen gelöchert. Es folgen wieder zahlreiche Selfies. Ich möchte besser nicht wissen, wie viele davon an diesem Wochenende auf Facebook gelandet sind, mit Untertiteln wie "Deutsche reitet unseren Esel!" Ich bin erleichtert, als schließlich auch das Kopftuch von Aimeds* Schwester sitzt. Das scheint hier eine wahre Kunst zu sein. Während bei anderen Mädels jedes Haar perfekt sitzen muss, scheint hier das Kopftuch diese Herausforderung mit sich zu bringen.

 

Aimeds* Hochzeit soll um acht beginnen. Ich fahre mit seiner Mutter im PickUp eines Bekannten zu dem offenen Festsaal, wo die Feier stattfinden soll. Die meisten der kleinen, runden Tische sind bereits besetzt. Es gibt eine kleine Bar, an der man sich Getränke holen kann. Und eine Bühne, auf der ein DJ bereits in gedämpfter Lautstärke Musik auflegt. Wir sind eine halbe Stunde zu spät. Das spielt jedoch scheinbar keine Rolle, das Brautpaar erscheint schließlich erst um zehn. Die Musik wird plötzlich aufgedreht, Pistolenschüsse zerreißen die Luft im Saal. In Zeitlupentempo bewegt sich das Brautpaar zur Bühne, es werden ununterbrochen Fotos geschossen. Auf der Bühne angekommen geht es dann weiter mit Fotografieren. Zwischendurch bekommen die Gäste die Gelegenheit, dem Paar zu gratulieren und sich mit den beiden fotografieren zu lassen. Etwas später tritt dann ein Tänzer mit einem unglaublich weiten, leuchtenden Rock auf. Und schließlich drängen sich auch die jungen Männer auf die Bühne, um zu tanzen. Mir juckt es in den Fingern. Ich bin mir allerdings sicher, dass es nicht angebracht wäre, mich als Frau dazuzustellen. Später beginnen schließlich auch einige Frauen auf der anderen Seite der Bühne zu tanzen. Darunter einige temperamentvolle, ältere Damen.

 

Als wir uns am Abend auf den Rückweg machen, sind meine Ohren fast taub. Wir müssen uns anschreien, um einander zu verstehen. Aimeds* Mutter fährt mit mir bereits vor dem Ende der Feier zurück. Den Aufbrauch des Brautpaares erlebe ich erst bei der Hochzeit von Aimeds* Bruder mit. Sie werden in einem roten Cabrio nachhause kutschiert. Begleitet von der ganzen Festgesellschaft, entweder im eigenen Auto, in Kleinbussen oder in TukTuks. Mit ununterbrochenen Hupen und lauten Gejubel. Am Haus der Eltern angekommen, trägt der Bräutigam seine Braut dann über die Schwelle. Ob auch über die Treppen bis in die zweite Etage, dass kann ich nicht mehr sehen.

 

Die restliche Verwandschaft trifft sich dann in der Wohnung der Eltern. Ein eigens für diesen Tag angestellter Koch hat Unmengen an Essensportionen vorbereitet, die von dem Besuch verschlungen werden. Man sitzt noch einige Zeit zusammen, irgendwann nach Mitternacht kehrt dann Ruhe im Haus ein.

Das (geliehene) Bautauto
Das (geliehene) Bautauto

Ich bleibe noch bis zum nächsten Nachmittag, gegen Abend bringt mich Aimeds* Bruder dann mit dem TukTuk zum Busbahnhof. Zuvor besuche ich zusammen mit der Familie Aimed* und Raija* in ihrer neuen Wohnung. Die Eltern drücken jedem Kind einen Umschlag mit Geld in die Hand, den sie dem Brautpaar geben sollen. Auch mir. Ich versuche abzulehnen, ich habe schließlich selbst ein kleines Geschenk für das Brautpaar mitgebracht. Ich habe jedoch keine Chance. Solange ich hier bin, zähle ich auch zu ihren Kindern, meint der Vater. Ich gebe mich geschlagen, nicht ohne jedoch Aimed*, wahrscheinlich überflüssigerweise, darauf hinzuweisen, dass der Umschlag von seinen Eltern kommt. Dann gibt es Mittag. Wieder gefüllte Täubchen und Gans, aus dem eigenem Stall im Erdgeschoss des Hauses. Dort lebt neben Hühnern und Truthähnen auch der Esel der Familie.

 

Bevor ich schließlich mit Aimeds* Bruder aufbreche, drückt mir der Vater ein zweites Mal Geld in die Hand. Für den Bus, meint er. Nur handelt es sich bei dem Betrag etwa um das Zehnfache der Fahrtkosten. Ich habe leider keine Chance gegen die Hartnäckigkeit der Eltern. Später wird mir klar, dass es sich um genau den Betrag handelt, den ich dem Brautpaar in ihr Geschenk hinein gesteckt habe.

 

Ich muss daran denken, was eine Bekannte hier vor einiger Zeit zu mir meinte, die mir davon abgeriet, die Familie auf dem Dorf zu besuchen. Viele Ägypter würden die Ausländer hier ausschließlich als Geldquelle betrachten. Und wenn man dann nachhause eingeladen würde, dann in der Erwartung, dafür finanziell entschädigt zu werden. Bestenfalls.

 

Es ist doch immer wieder spannend, wie überzeugt manche Menschen davon sind, alles über die Anderen zu wissen. Schlechte Erfahrungen auf den Rest der Gesellschaft übertragen. Mir ist durchaus bewusst, dass es sich bei Aimeds* Familie um eine scheinbar wohlhabende Familie handelt, die nicht auf mein Geld angewiesen ist. Allerdings habe ich auch in Beziehungen zu ärmeren Menschen innerhalb der letzten drei Monate nie die Erfahrung gemacht, dass man bereit war, sich Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft bezahlen zu lassen.

 

Während ich im Bus zurück nach Kairo sitze und die Sonne über den Feldern untergehen sehe, bin ich tief in Gedanken versunken. Ich fühle mich beschämt, darüber, dass man Menschen, die aus Ägypten oder anderen muslimischen Ländern kommen, bei uns in Deutschland oft so abweisend begegnet, während ich hier mit offenen Armen willkommen geheißen werde.

 

Was macht mich denn als Europäer so viel besser als einen Menschen mit arabischen Hintergrund? Nichts. Darum geht es den Ägyptern auch nicht, sie halten mich nicht für einen besseren Menschen. Aber eben für einen fremden Menschen. Einen Menschen, der aus einem mehr oder weniger fernen Land angereist ist und ohne Familie und Freunde hierher gekommen ist. Und es ist Teil ihrer Religion als auch ihrer Menschlickeit, sich um solche Menschen zu kümmern und Gastfreundschaft an ihnen zu üben. Und darüber hinaus sind sie einfach neugierig auf dieses Fremde, von dem ich irgendwie Teil bin. Viele hatten nie und werden nie die Möglichkeit haben, in ein anderes Land, geschweige denn nach Europa zu reisen. So bleibe ich als Ausländer das einzige, was sie jemals von dieser anderen Welt zu sehen bekommen werden. Ich und die Geschichten, die ich ihnen erzählen kann. Und so ermüdend und aufdringlich die vielen Blicke, die nicht endenden Selfies auch manches Mal sein können, so bewundere ich die Ägypter doch für ihre Neugier auf dieses Fremde, die vielen von uns längst verloren gegangen ist.

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